Zeit und Kommunikation
Jean Baudrillard im Gespräch mit Eckhard Hammel

Auszug

EH: Die Auseinandersetzung mit dem Zeitproblem ist so alt wie die abendlaendische Kultur. Sie reicht vom antiken Mythos bis zur gegenwaertigen Naturwissenschaft. Was Zeit sei, diese Frage hat die Menschen von jeher fasziniert. Man hat die Zeit unterteilt in Einheiten, in Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Man nimmt die Zeit an den Dingen wahr und man spuert sie an sich selbst. Es gibt vielleicht nur eine Frage, die die Menschen mehr fasziniert hat als die Frage nach der Zeit; das ist die nach der Zeitlosigkeit.
Jean Baudrillard, Sie sprechen heute von einem transfiniten Stadium der Zeit. Geht der Begriff der transfiniten Zeit ueber die klassische Antinomie von Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit hinaus?

JB: Der Begriff des "Transfiniten" entspricht keinem Konzept, er ist eine Metapher: Ich meine damit Prozesse, die zu ihrem Ende gekommen und zugleich ueber dieses Ende hinausgelaufen sind. Diesen Zustand nenne ich Hypertelie. Diese Prozesse sind ueber ihren eigenen Zeit-Prozess und ueber ihre eigene Finalitaet hinaus gelangt. Sie entwickeln sich in einer Hyperzeit, in einer Art Selbstrekursivitaet ("récurrence") und Wiederholung. Sie gehorchen also nicht mehr dem konventionellen Zeitmass; sie sind von einer Intemporalitaet, einer "Unzeitmaessigkeit" gekennzeichnet. Man kann sie nicht mehr den Begriffen "Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" zuordnen. Die "Zeit" der Virulenz, der Viralitaet beispielsweise ist eine solche "Zeit" jenseits des Endes.
Darueber hinaus muss man diese Wiederholung als einen Zustand der physischen Unendlichkeit, der physischen Unsterblichkeit begreifen. Zeitlos im Sinn der Unsterblichkeit sind die Prozesse, weil sie bereits tot sind, beziehungsweise nicht mehr dem klassischen Gegensatz von Lebendem und Totem unterliegen.

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EH: Sie sagen, die Dinge seien schon ueber ihr Ziel, ueber ihr zeitliches Ende hinausgelangt, und sie befinden sich nunmehr in einem orbitalen Raum der Reversibilitaet. Sie haben aber auch ueber die fortschreitende UEbersaettigung der Systeme gehandelt, die unweigerlich auf die Katastrophe zusteuert. Thematisieren Sie damit nicht doch ein Phaenomen der Irreversibilitaet, der Unumkehrbarkeit, dem zeitliche Entwicklung nicht abzusprechen ist?

JB: Man muss sich sowohl mit der Reversibilitaet der Prozesse als auch mit ihrer Irreversibilitaet befassen, mit deren Zugleichsein. Es ist schwierig, Reversibilitaet und Irreversibilitaet zusammen zu denken. Fuer mich stehen beide nicht in einem kontradiktorischen, antinomischen Verhaeltnis.
In der Analyse des heutigen Systems zeigt sich eine Art Irreversibilitaet: Insofern alles innnerhalb der Zeit, in unserer Chronologie zustandekommt, muss alles auf sein Ende zusteuern. Alles muss nach einer eigenen Logik bis zum Ende des Prozesses laufen. Allerdings entwickelt sich im Innersten dieser Chronologie eine beschleunigte Bewegung, die den Prozess in eine chaotische Turbulenz versetzt. Dadurch entgeht er asymptotisch dem zeitlichen Ende beziehungsweise der zeitlichen Begrenzung ("termin"). Es herrscht da eine innere, chaotische Logik, die im Inneren der Zeit nicht auf das Ende zulaeuft. Das Ende ist immer durch Linearitaet ausgezeichnet; hier aber gibt keine Linearitaet mehr, und so kommen die Prozesse nie an eine Grenze ("termin"). Dieses Zeitprinzip, die wirkliche Zeit, wird entweder beschleunigt oder verlangsamt, so dass wir niemals eine Zeitbilanz ziehen koennen. Damit Geschichte entsteht, muss es eine Kontinuitaet geben, eine Linie, eine Perspektive, ein Frueher und ein Nachher. Hier aber gibt es nichts dergleichen. Der Prozess eines Systems mag irreversibel sein, aber es gibt eine umgreifende Form, das ist die Reversibilitaet aller Prozesse, des Boesen und des Guten, all dieser Gegensaetze, die Reversibilitaet aller Werte. "Reversibilitaet" meint ja auch keinesfalls ein lineares Zurueckschreiten, sondern vielmehr eine Art Zyklus, eine Art Verhaengnis.

EH: Besteht ein Zusammenhang zwischen der Entdeckung der Irreversibilitaet und der Kommunikation? Eigen formulierte bereits Ende der 60er Jahre seine Theorie des Hyperzyklus, die mikrophysische Phaenomene nach den Prinzipien des Kommunikationsmodells interpretiert. Prigogine belegt die Funktionsweise der sogenannten "chemischen Uhr" mit dem Begriff "Kommunikation". Das ist keine Kommunikation in der Art etwa des Dialoges. Was aber ist es dann?

JB: Diese Kommunikation haengt mit dem Problem der Unzertrennbarkeit zusammen. Die Unzertrennbarkeit der Partikel, die Kommunikation, die Infrakommunikation findet zwischen Partikeln und Antipartikeln statt. Es gibt auf dieser Ebene eine Art von Kommunikation, die anders funktioniert als die soziale Medien-Kommunikation. Diese ganz andere Art der Kommunikation besteht darin, dass alles in endloser Vernetzung miteinander verknuepft ist. Nichts ist trennbar oder zertrennbar. Das ist etwas ganz anderes als die konventionelle Kommunikation zwischen uns, in der es einen Rezeptor, einen Emmitteur und ein Medium gibt. Diese Art Unzertrennbarkeit entwickelt sich ohne Medium - und die Frage danach, was dort geschieht, ist fast eine mystische Frage. Wir muessen diese physische Tatsache in das Metaphysische uebersetzen und versuchen, dieses Prinzip auch in die Naturwissenschaften und in die Sozialwissenschaften einzubringen.

EH: Wird demnach die Zeit innerhalb der Naturwissenschaft zu spaet entdeckt, zu einem "Zeitpunkt", an dem Sie sie laengst verabschiedet haben?

JB: In der konventionellen Logik entdeckt man die Dinge, das heisst, man versucht, sie mit Hilfe von Wissenschaft oder Rationalitaet zu entdecken. Es gibt ein Postulat der Wirklichkeit, der Realitaet der Dinge, und man versucht, ihm naeher und naeher zu kommen und es aufzudecken. UEberall heute ist es der einzige Weg der Entdeckung.
Dagegen raeume ich der Erfindung einen anderen Platz, gekoppelt an die Illusion, ein - eine Welt erfinden, aber nicht als Fiktion, sondern gerade als Raetsel. Erfindung ja, aber man weiss nicht, was man erfindet. Wenn man etwas entdeckt, dann weiss man gewissermassen, was man entdeckt, und man versucht, diese Dinge naeher zu bezeichnen. Man erfindet nicht mehr. Wir leben in der Zeit der Entdeckung, der Wiederentdeckung. Das entspricht nicht dem Raetsel. Was erfunden wird, bleibt immer ein Raetsel, weil es naemlich als Objekt immer aufgeschoben wird. Es wird im Grunde nie zum Objekt. Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt bleibt unentschieden. Das Problem der Subjektivitaet ist hier aufgehoben - nicht radikal natuerlich. In dem Raetsel, in dieser Aktivitaet der Illusion hebt sich das Subjekt auf und ergreift gewissermassen die Partei des Objekts. Das aber kann nie vollstaendig gelingen, und so bleibt man immer im Bereich der Indifferenz zwischen Objekt und Subjekt.
In der Entdeckung hingegen ist die Position, die Stellung des Subjekts einigermassen sichergestellt, und damit entsteht das Problem der Entdeckung des Objekts. Das ist eine ganz andere Position.

EH: Auch fuer den aktuellen Konstruktivismus spielt der Begriff "Erfindung" eine wichtige Rolle. Damit verbunden sind die Neutralitaet des Mediums und der Konstrukteur, der sich als souveraenes Subjekt seiner Konstruktionen bedient. Es gibt gewiss einen Unterschied zwischen der "Erfindung" bei Baudrillard und der "Konstruktion" der Konstruktivisten?

JB: Ich wuerde mich nie als Konstrukteur bezeichnen. Ich moechte eher, dass das Objekt von sich selbst her und aus sich selbst heraus erscheint oder verschwindet. Die Logik des Erscheinens und des Verschwindens des Objekts als Raetsel ist fuer mich viel interessanter als dieser kuenstliche Konstruktivismus des Objekts und der Welt.

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EH: Sie haben zwei einander widersprechende und doch unzertrennliche Zeitformen beschrieben, Verlangsamung und Beschleunigung, die fuer Sie auch praktische Strategien im Umgang mit der Zeit darstellen. An anderer Stelle haben Sie in einem aehnlichen Zusammenhang den Begriff der "Elektrokution der Zeit" gebraucht. Gibt es eine Strategie der elektronischen Exekution der Zeit und ihrer Implikationen, also der Geschichte, der Gesellschaft, der Politik usw.?

JB: Ja, vielleicht in dem Sinn, dass Elektrokution das Zusammenbringen der beiden Pole der Verlangsamung und der Beschleunigung bezeichnet. Es gibt dann einen Kurzschluss. Elektrokution meint Kurzschluss der beiden Pole der Zeit. Dadurch kommt es zu einer Verfluechtigung der Zeit, einer Verdunstung der Zeitdimension. Dieses Sprengen der Polaritaet durch ein Zunahekommen beispielsweise des Ereignisses und des Mediums in der Information, dies fuehrt zum Kurzschluss, zur Elektrokution.

EH: Die Begriffe "Information" und "Kommunikation" verdanken sich der Tradition der Aufklaerung. Die Utopie der Aufklaerung von Kant bis McLuhan setzt ja auf allgemeine Information. Mit dem Informationszeitalter hat die Information abgedankt. Es gibt keine Information mehr, sondern nur noch die Reversibilitaet, die Selbstrekursivitaet von Formen...

JB: ... nur noch eine sehr schnelle Tautologie der Zeit. Dieser Kurzschluss ist in diesem Sinn zunaechst einfach der des Mediums und der Message, wie McLuhan sagt. Es gibt keine Zeit mehr fuer genaue Informationen. Die Distanz zu urteilen, zu geniessen oder sogar einen Sinn zu geben, ist verschwunden. Die Moeglichkeit der Sinngebung fehlt, weil es keine Zeit mehr gibt. (...)

erschienen in: Information Philosophie 5 (Dezember 1994), S. 12-16